ISPI
International Senior Professional Institute
 

Art Brut oder die Emanzipation der Kunst von Menschen in psychischen Krisen



Abstract zum Vortrag im Rahmen des ISPI e.V.-Programm 2010 am 03.02.2010 im Weincontor Pfeffermann, Grünbergerstrasse 120, Gießen


Autor: Dr. Helmut Scharf, Datum der Niederschrift: 09.02.2010, giramondo02@gmx.de         (Photo von Janina Fraczek, u Digital Art von Dr. Una Chen)


1.Psychiatrische Kunst - also Artefakte von Menschen in psychischen Krisen - wurden bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als wertlose Kritzeleien und Dilletantismus diskriminiert. Nicht erst im Nationalsozialismus wurden die Arbeiten psychisch kranker Menschen sogar dazu herangezogen um die Minderwertigkeit völkisch verfemter Künstler wie Otto Dix, Ernst Barlach, Ernst Ludwig Kirchner oder Oskar Kokoschka zu demonstrieren.


2.Auch die Malerei von Kindern war lange Zeit diskriminiert. Sie ist jedoch ein Spiegelbild des noch nicht verlorengegangenen Paradieses. Allzu früh werden Kategorien der Erwachsenen welt übernommen und der Garten Eden verkommt nach und nach zu einem Jahrmarkt der Eitelkeiten, des Wettbewerbs und des Materialismus.


3.Die Ausgrenzung insbesondere von psychisch Kranken (und damit auch ihrer Kunst) war Gegenstand des Historikers und Philosophen Michel Foucault, der in seinem 1961 veröffentlichten Werk "Wahnsinn und Gesellschaft: Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft" sich mit der Frage beschäftigte, an welchem Punkt in der europäischen Geistesgeschichte "die aufklärerische Vernunft sich endgültig von Wahnsinn als ihrem manifesten Gegenteil losgesagt hat." Während Foucault auf philosophischem und historischem Gebiet die Emanzipation der Menschen in seelischen Krisen förderte, tat es die Anti-Psychiatrie-Bewegung der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts mit alternativen, experimentellen und psychologischen Methoden.


4.Sahen Foucault und die Vertreter der Anti-Psychiatrie-Bewegung die Ausgrenzung der Menschen in psychischen Krisen seit der Aufklärung durch Wegsperrung aus der bestehenden Gesellschaft - bis heute gibt es Fixierungen und geschlossene Stationen, Elektroschocks und Zwangsmedikationen - so führten die psychisch kranken Künstler lange ein Schattendasein als Außenseiter. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts gab es jedoch auch zunächst zaghafte Bemühungen psychiatrische Kunst nicht nur zu diagnostischen Zwecken, sondern auch aus ästhetischen Gründen zu emanzipieren.


5.Im Folgenden werden die wichtigsten Höhepunkte auf dem Weg der Emanzipation psychiatrischer Kunst dargestellt:


5a. Paul Meunier (1873-1957), französischer Psychiater. 1907 erscheint unter dem Pseudonym "Marcel Reja" das Buch "L' art chez les Fous", das jedoch wenig Beachtung findet. Die Werke von Psychiatriepatienten werden erstmals nicht nur unter diagnostischen, sondern auch unter ästhetischen Gesichtspunkten bewertet.


5b. Walter Morgenthaler (1882-1965), schweizer Psychiater und Psychotherapeut. 1921 erscheint sein Buch "Ein Geisteskranker als Künstler", in dem er den schizophrenen Künstler Adolf Wölfli und seine Kunst in den Mittelpunkt stellt. Erstmals wird ein Patient eindeutig namentlich erwähnt und ein "Geisteskranker" klar als Künstler bezeichnet. Das Buch ist zu werten als erster mutiger Schritt in Richtung wertschätzender Einbindung von Außenseiterkunst in die Gesellschaft. Während seiner langjährigen Arbeit in der Psychiatrie Waldau sammelte Morgenthaler rund 5000 Werke von über 280 Patienten, von denen eine Auswahl in der Sammlung Walter Morgenthaler (Stiftung Psychiatrie Museum Bern) zu sehen ist.


5c. Hans Prinzhorn (1886-1933), deutscher Kunsthistoriker und Psychiater. H.P., vormaliger Assistent an der Psychiatrischen Klinik der Universität Heidelberg veröffentlicht 1922 sein Buch "Bildnerei der Geisteskranken. Ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung" mit der er eine größere Öffentlichkeit erreicht. Während sich seine Kollegen zurückhaltend über die Neuerscheinung äußerten, wurde diese für die Surrealisten der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu einer Art Bibel. Weniger Erfolg hatte H.P. Mit seinem Buch "Bildnerei der Gefangenen", das 1926 erschien. Ebenso wenig erfolgreich war er in den Folgejahren in Beruf und Partnerschaften. In späteren Jahren war er ein Vertreter der "konservativen Revolution" und stand dem Nationalsozialismus nahe. Er starb 1933 zurückgezogen in München. Seine "Bildnerei der Geisteskranken" wirkte jedoch über seine Zeit hinaus:" Nicht nur die Sicht der Psychiatrie auf die "Geisteskranken", auch die Sicht vieler Künstler auf die Wirklichkeit und die Kunst selbst und nicht zuletzt unsere eigene Sicht auf die Wirklichkeit haben sich seither gewandelt." H.P. Legte außerdem als Assistenzarzt in Heidelberg den Grundstein für die wissenschaftlich bearbeitete PrinzhornSammlung. Der 1938 von den Nazis eingesetzte Direktor der Psychiatrischen Klinik Karl Wilmanns instrumentalisierte Werke aus der Sammlung für die Wanderausstellung ,,Entartete Kunst" als pathologisches Beweismaterial gegen die Kunst der Moderne. - Die Sammlung Prinzhorn erhielt 2001 ein eigenes Museum.


5d. Jean Dubuffet (1901-1985), französischer Maler, Bildhauer und Weinhändler. Kopf der von ihm theoretisch entwickelten Art Brut (frz. Für unverbildete, rohe Kunst, auch etwa edelherbe Kunst). Sie ist weder Kunstrichtung noch Stilbezeichnung, sondern vielmehr eine Kunst jenseits etablierter Kunstformen und -strebungen. Sie ist außerdem Sammelbegriff für eine selbsterlernte Kunst von psychisch Kranken, Kindern und Laien mit einer naiven und antiakademischen Ästhetik J.D. Förderte die künstlerischen Außerungen von Menschen in seelischen Krisen und anderer gestaltender Außenseiter der Gesellschaft."Obwohl damals die große Erschütterung der zeitgenössischen Kunst ausblieb, wurden Fragen zur akademischen Ausbildung, zum Status des Künstlers zum Verhältnis von Kunst und gesellschaftlichem Umfeld und künstlerischen Kommunikationsformen aufgeworfen, die bis heute nachklingen. Was nämlich seine Vorgänger, die Psychiater, bisher nicht geschafft hatten, ist dem Künstler Dubuffet gelungen - er konnte mit seiner künstlerischen Kompetenz eine Anerkennung der Außenseiterkunst in der Kunstwelt erkämpfen und damit vielen Menschen näher bringen. Art Brut wird auch heute noch als Dubuffets geistiges Eigentum von den aktuellen Kustoden des Museums verteidigt und nur auf die Werke seiner Sammlung beschränkt" Dubuffets Art-Brut-Sammlung wird heute in der Collection de I'Art Brut in Lausanne verwahrt.


5e. Leo Navratil (1921-2006), österreichischer Psychiater. L.N. Erforschte und förderte die sog. ."zustands gebundene Kunst", also die Kunst von Patienten psychiatrischer Anstalten, und regte zeichnerisches und malerisches Gestalten zu Diagnose- und Therapiezwecken an. Er war seit 1946 Arzt und seit 1956 Primar an der Landesnervenheilanstalt Maria Gugging bei Klosterneuburg nahe Wien. Gugging war in den späten 60er und den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts Pilgerstätte für Wiener und andere europäische Künstler. Unter den Patienten waren so namhafte Künstler wie Johann Hauser, August Walla und Oswald Tschirtner sowie Literaten wie Ernst Herbeck und Edmund Mach. 1981 wurde auf dem Gelände des Gugginger Krankenhauses das Zentrum für Kunst- und Psychotherapie eingerichtet, das unter dem Namen Haus der Künstler bekannt wurde. 1997 wurde eine kommerzielle Kunstgalerie geschaffen.


5f. Harald Szeemann (1933-2005), schweizer Kunsthistoriker und Kurator von Ausstellungen mit den Werken von Menschen in psychischen Krisen, war Wiederentdecker der Prinzhorn-Sammlung nach dem Zweiten Weltkrieg, die er 1963 unter dem Titel "Bildnerei der Geisteskranken - Art Brut - Insania Pingens" in der Kunsthalle Bern zeigte. 1972 inszenierte er als Kurator der Dokumenta 5 in Kassel ein Adolf-Wölfli-Kabinett und somit wurde zum ersten Mal psychiatrische Kunst in diese Ausstellung international hochrangiger moderner Kunst gezeigt.


5g Die Blaumeier in Bremen (war in den bisherigen Vorträgen noch nicht besprochen worden, wird jedoch wegen ihrer Bedeutung als antipsychiatrische Kulturgruppe, in der Menschen mit und ohne psychische Krisen, geistig Behinderte, Pfleger und Psychiater auf gleichberechtigter Ebene zusammenarbeiten, in Zukunft berücksichtigt werden. Die Gruppe, die in der Anti-Psychiatrie-Bewegung der sechziger Jahre wurzelt, wird von der Stadt Bremen gefördert und arbeitet auf den Gebieten der Bildenden Kunst, des Theater, der Musik und der Volkskultur)


6.Fünf Künstler des Art Brut werden mit exemplarischen Bildern vorgestellt:


6a.Friedrich Schröder-Sonnenstern, 6b.Johann Hauser, 6c.Adolf Wölfli, 6d.August Natterer, 6e.Theo Wagemann


7.Zwei Schriftsteller des Art Brut werden mit exemplarischen Texten vorgestellt:


7a. Ernst Herbeck, 7b.Edmund Mach


8.Fazit: Der lange steinige Weg zur Emanzipation der Kunst der "Geisteskranken", ermöglicht durch mutige Psychiater und Künstler und den immer zahlreicher werdenden Menschen, die mehr wollten als den "Röhrenden Hirsch" oder den "Elfenreigen" und die vor Bildtiteln wie dem .Würgeengel" oder dem "Hl.. Schweisswunder in der Einlegesohle" nicht zurückschreckten.


Dr. Helmut Scharf ist Kunsthistoriker und Psychologischer Berater, der gleiche Vortrag wurde gehalten am 24. 1 2010, bei Psychoaktiv e.V., Löberstraße 8, Gießen